Der große Mutismusbericht: Warum manche Kinder mit selektivem Mutismus nicht auftauen, was Eltern wirklich wissen sollten.

Ichals Kind mit selektivem Mutismus und daneben ich als erwachsene ohne selektiven mutismus

Ich hatte selbst selektiven Mutismus. Heute plaudere ich, treffe Freundinnen, arbeite mit vielen Menschen zusammen, gehe in Sportgruppen, spreche auf Versammlungen und reise leidenschaftlich gern. Ich weiß, wie viel Schmerz, Unsicherheit und auch Missverständnisse mit dem Mutismus einhergehen. besonders für die Eltern.

Darum habe ich im Alter von 22  Jahren begonnen, den Mutismus genauer zu erforschen, herauszufinden, warum ich diesen ohne Therapie überwunden habe. Seit mehr als 10 Jahren berate ich Eltern, besonders Mütter und tausche mich mit Betroffenen aus. Mit erstaunlichen Erkenntnissen.

So viel könnte sich zum Positiven wenden – wenn wir beginnen würden, Mutismus wirklich zu verstehen.

Dazu später mehr…

Kind mit selektivem Mutismus starrt ins Leere

Ein kind, das im familiären Umfeld ganz normal spricht und im Außen einfriert und schweigt, stellt alle Betroffenen vor eine besondere Herausforderung. Das Schweigen bessert sich in vielen Fällen. Häufig allerdings zu spät. Und in fast allen Fällen nicht vollumfänglich.

Ein großes Missverständnis beim selektiven Mutismus

Ich wurde schon oft gefragt, wie ich es geschafft habe, selektiven Mutismus zu überwinden. Die ehrliche Antwort ist: Du überwindest dabei nicht einfach eine Sprech-Blockade. Du überwindest dein eigenes Nervensystem.

Oft begegnet mir der Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“
Ein bekannter Satz von Paul Watzlawick, der meiner Meinung nach viel zu sehr gehyped wird.  Gerade im Zusammenhang mit selektivem Mutismus ist er fehlleitend.

Denn wenn ein Kind mit selektivem Mutismus schweigt, wenn sämtliche Kommunikation einfriert, dann ist das kein Versuch, etwas zu sagen. Es ist auch keine stille Botschaft und kein passiver Widerstand. Es ist wirklich der Versuch des Körpers, Kommunikationssignale zu unterbinden.  Es ist eine Schutzreaktion des Nervensystems. Eine Art inneres „Abschalten“, um nicht zu überfordern. Natürlich findet das in unterschiedlichen Ausprägungen statt.

Und trotzdem wird ihr Verhalten oft fehlinterpretiert.  “Man kann nicht nicht kommunizieren”, hat in dem Zusammenhang den Charakter eines Vorwurfs. Denn im Umkehrschluss verstehen Menschen mit schlechtem Selbstwertgefühl das Schweigen dann als persönlichen Angriff.

„Sie will nicht mit mir sprechen.“
„Er ist halt ein schwieriges Kind.“
„Sie will doch Aufmerksamkeit.“

Dabei ist das Gegenteil der Fall:

Mutistische Kinder wollen am liebsten gar nicht auffallen. Sie wollen einfach nur sicher sein.

Wenn das System einfriert – und Eltern mit einfrieren

Selektiver Mutismus ist kein isoliertes Phänomen des Kindes. Er betrifft das ganze System.
Viele Mütter – und auch Väter – geraten selbst in eine Art Freeze:
Sie stehen unter Druck, haben Schuldgefühle, fragen sich heimlich, ob sie etwas falsch gemacht haben, werden verurteilt und beschuldig oder schräg beäugt. Das führt zu einer Art Perfektionismus, der auch typisch ist für selektiven Mutismus: “Alles perfekt oder gar nicht machen”. Sie googeln sich die Nächte um die Ohren. Aus purer Angst, ihrem Kind nicht gerecht zu werden. Sie wollen Fehler vermeiden, lesen und hören unterschiedliche und wiedersprüchliche Ratschläge und befinden sich letztlich selbst genau in dem Zustand, in denen sich ihr Kind befindet: Handlungsunfähig und eingefroren.

Ich habe es unzählige Male erlebt:

Der Wendepunkt kommt oft nicht durch ein neues Tool, sondern durch eine neue Haltung.

Wenn Eltern lernen, sich selbst zu regulieren, sich zu spüren, wieder auf ihr Bauchgefühl zu hören, beginnt sich auch beim Kind etwas zu verändern. Das fühlt sich an, wie eine nervliche Entspannung.

Hier handelt es sich keineswegs um ein esoterisches Konzept, sondern um ein neurobiologisches Prinzip:

Auch genannt: Co-Regulation. Und diese beginnt immer bei der Bezugsperson. Wenn diese Bezugsperson selbst in einem inneren Freeze ist, wird das Kind höchstwahrscheinlich auch nicht auftauen. Auch Kinder mit Mutismus lernen von den Eltern als Vorbild. Das passiert eher unbewusst, als bewusst.

Die Eltern haben einen viel größeren Hbeel in der Hand, als man sie wissen lässt. In zu wenigen Therapien werden die Eltern geschult und mit eingebunden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele Therapeut*innen nicht wissen, wie ein mutistisches Kind zu Hause agiert.   

In meiner eigenen Weiterbildung zur Elternberatung nach Dortmut habe ich gelernt, was Eltern wirklich brauchen:
Nicht neue Erziehungsstrategien – sondern Verbindung zu sich selbst.