Mutismus ist kein Grund, einem Kind die Zukunft kleinzuhalten

Ichals Kind mit selektivem Mutismus und daneben ich als erwachsene ohne selektiven mutismus

Immer häufiger höre ich von Eltern selektiv mutistischer Kinder, dass ihnen von Kliniken oder Beratungsstellen empfohlen wird, ihr Kind auf eine Förderschule zu schicken.
Die Begründung: Dort sei alles leichter, es werde Rücksicht genommen, und das Kind fühle sich nicht minderwertig, weil es unter anderen Kindern mit besonderen Bedürfnissen ist.

Das klingt zunächst fürsorglich – doch ich sehe darin auch eine Entwicklung, die wir kritisch hinterfragen müssen.


So viel könnte sich zum Positiven wenden – wenn wir beginnen würden, Mutismus wirklich zu verstehen.

Dazu später mehr…

Kind mit selektivem Mutismus starrt ins Leere

Mutismus ist überwindbar

Selektiver Mutismus ist keine lebenslange Behinderung. Studien und Erfahrungen zeigen, dass er überwindbar ist, oft mit der richtigen Unterstützung und der Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen.
Wenn wir einem Kind von klein auf signalisieren: „Dein Weg wird leichter gemacht, damit du bloß nicht stolperst“, nehmen wir ihm nicht nur Herausforderungen, sondern auch die Chance, innere Stärke zu entwickeln.

bKinder mit Mutismus tragen häufig enorme Ressourcen in sich. Viele wollen – irgendwann – die Komfortzone verlassen. Werden sie jedoch über Jahre hinweg behütet, erleben sie beim späteren Wechsel auf eine anspruchsvollere Schule eine Herausforderung, mit der sie nie gelernt haben umzugehen. Und zwar in jungem Alter. Dann, wenn Kindergehirne in der Entwicklung noch viel flexibler sind.


Der Schein der Leichtigkeit

Natürlich gibt es Ausnahmen, in denen eine Förderschule der richtige Ort ist. Doch diese Entscheidung sollte immer individuell und mit Blick auf die langfristigen Ziele getroffen werden.
Denn die Vorstellung, man könne jederzeit problemlos von einer Förderschule auf eine Realschule oder ein Gymnasium wechseln, ist in der Praxis oft trügerisch. Eltern berichten, dass dieser Übergang als problemlos möglich dargestellt wird – in der Umsetzung dann aber mit unglaublichen Hürden verbunden ist.

Ich selbst kenne den umgekehrten Weg: Als Kind erhielt ich eine Realschulempfehlung, meine Eltern entschieden sich jedoch fürs Gymnasium. „Absteigen geht immer, aber wir wollen, dass du erst einmal oben anfängst“, sagten sie. Diese Haltung hat mich geprägt. Ja, es war hart. Aber nur, weil es hart war, habe ich gelernt, immer wieder aufzustehen.


Inklusion ist Gesetz – und Chance

Heute gilt in Deutschland: Öffentliche Schulen sind verpflichtet, Inklusion umzusetzen. Das bedeutet, dass auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen die gleichen Bildungschancen haben sollen, wie alle anderen und individuell in der Regelschule unterstützt werden können.
Warum sollten wir also auf eine Förderschule ausweichen, wenn wir gesetzlich verankerte Möglichkeiten haben, das Kind in einer Regelschule zu fördern?

Privatschulen hingegen sind nicht an die gleichen Vorgaben gebunden. Das ist ein wichtiger Punkt, den Eltern im Hinterkopf behalten sollten, wenn sie über Alternativen nachdenken.


Angst ist kein guter Kompass

Ich weiß: Die Sorge um ein stilles Kind kann überwältigend sein. Der Wunsch, es zu schützen, ist zutiefst menschlich. Aber wenn diese Angst dazu führt, dass wir es vorsorglich von allen Hürden fernhalten, wirkt das dem Fortschritt oft entgegen.
Es ist Mutismus fördernd, wenn wir Mauern um das Kind bauen. Die Möglichkeit zu wachsen bekommt das Kind, wenn wir Wege öffnen.

Mein Appell: Trauen wir unseren Kindern zu, dass sie mehr schaffen, als wir im Moment sehen. Geben wir ihnen die Chance, Erfahrungen zu machen, statt sie nur vor Herausforderungen zu bewahren. Denn genau diese Erfahrungen sind es, die Mutismus Schritt für Schritt überwinden helfen.

Wenn das System einfriert und Eltern mit einfrieren

Selektiver Mutismus ist kein isoliertes Phänomen des Kindes. Er betrifft das ganze System.
Viele Mütter – und auch Väter – geraten selbst in eine Art Freeze:
Sie stehen unter Druck, haben Schuldgefühle, fragen sich heimlich, ob sie etwas falsch gemacht haben, werden verurteilt und beschuldig oder schräg beäugt. Das führt zu einer Art Perfektionismus, der auch typisch ist für selektiven Mutismus: “Alles perfekt oder gar nicht machen”. Sie googeln sich die Nächte um die Ohren. Aus purer Angst, ihrem Kind nicht gerecht zu werden. Sie wollen Fehler vermeiden, lesen und hören unterschiedliche und wiedersprüchliche Ratschläge und befinden sich letztlich selbst genau in dem Zustand, in denen sich ihr Kind befindet: Handlungsunfähig und eingefroren.

Ich habe es unzählige Male erlebt:

Der Wendepunkt kommt oft nicht durch ein neues Tool, sondern durch eine neue Haltung.

Wenn Eltern lernen, sich selbst zu regulieren, sich zu spüren, wieder auf ihr mutiges Bauchgefühl zu hören, beginnt sich auch beim Kind etwas zu verändern. Das fühlt sich an, wie eine nervliche Entspannung.

Hier handelt es sich keineswegs um ein esoterisches Konzept, sondern um ein neurobiologisches Prinzip:

Auch genannt: Co-Regulation. Und diese beginnt immer bei der Bezugsperson. Wenn diese Bezugsperson selbst in einem inneren Freeze ist, wird das Kind höchstwahrscheinlich auch nicht auftauen. Auch Kinder mit Mutismus lernen von den Eltern als Vorbild. Das passiert eher unbewusst, als bewusst.

Die Eltern haben einen viel größeren Hbeel in der Hand, als man sie wissen lässt. In zu wenigen Therapien werden die Eltern geschult und mit eingebunden. Zu wenige Kliniken sehen das Potenzial, das in Kindern mit Mutismus steckt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele Therapeut*innen nicht wissen, wie ein mutistisches Kind zu Hause agiert.   

Fazit: Selektiver Mutismus ist kein Grund, die Messlatte von Anfang an tief zu hängen. Kinder brauchen Hilfestellung und auch Herausforderungen. Eine Förderschule kann im Einzelfall sinnvoll sein, doch sie sollte nicht aus Angst vor möglichen Schwierigkeiten gewählt werden. Inklusion bietet heute Chancen, die wir nutzen können. Wer seinem Kind zutraut, zu wachsen, gibt ihm die beste Grundlage, den Mutismus zu überwinden und das Leben in seiner ganzen Größe zu erobern.