Forscher untersuchen den Zusammenhang zwischen selektivem Mutismus und Autismus

Immer wieder gibt es Gerüchte und Fehldiagnosen zu Autismus und Mutismus. Heute nehme ich eine Studie auseinander, die den Zusammenhang zwischen Mutismus und Autismus untersucht hat.

Ein hoch spezialisiertes Autismus-Diagnosezentrum wurde damit beauftragt, die Prävalenz (Vorkommen in Prozent) zwischen Autismus und Mutismus untersuchen. Das Ergebnis: 63 % von 97 Teilnehmern mit selektivem Mutismus zwischen 4 und 18 Jahren erfüllen die Diagnosekriterien für beider Erscheinungsbilder (Störungen). Wenn das stimmen sollte, haben weitaus mehr Kinder mit selektivem Mutismus auch Autismus, nämlich 63%.

Folglich schlussfolgern die Wissenschaftler: Die Überschneidung zwischen Mutismus und Autismus ist höher, als zuvor angenommen. Hier kannst du die Zusammenfassung lesen: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.2147/NDT.S154966

Ein sehr überraschendes Ergebnis, da in bisherigen Studien eher Überschneidungen von um die 7% herausgekommen sind.

Die beiden Erscheinungen können auf den ersten Blick äußerst ähnlich aussehen. Die Diagnosekriterien von Autismus ähneln zudem denen von selektivem Mutismus teilweise stark. Dennoch wissen wir: Beides ist nicht dasselbe. Die fehlende Differenzierung im DSM-V könnte hier zu einem großen Schwachpunkt werden, der letztendlich für mehr Verwirrung als Klarheit sorgt. 

Es wurden zwei  SM, bzw. Autismus Experten herangezogen, die die Diagnose gestellt haben. Es ist gut möglich, dass genau diese beiden zu denen gehören, die gerne mal etwas schneller schlussfolgern.

Diese Wissenschaftler wären nicht die ersten, die Mutismus und Autismus verwechseln. Übrigens habe ich dazu auf Instagram mal ein Reel gemacht. Die Botschaft dahinter: Es wäre schon zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre! Hier findest du das Reel von Doktor “Von Pfannenhauer”, der Eltern und ihre betroffenen Kinder in die Pfanne haut: https://www.instagram.com/p/CyYklcYMTCn/

Tatsächlich sehen Kinder mit Mutismus denen mit Autismus auf den ersten Blick zum verwechseln ähnlich. Der entscheidende Unterschied ist jedoch das komplett andere Kind, sobald es in “sicherer” Umgebung ist. Und das ist so wichtig: Man kann nicht draußen (Schule, Kindergarten und Co) Autismus haben und zuhause plötzlich keinen Autismus mehr haben.

Bemerkenswerte Ergebnisse zu IQ, Autismus und Selektivem Mutismus?

Hochproblematisch werden die Ergebnisse an dieser Stelle:

Die Ergebnisse der Studie ergeben, dass mehr als ein Drittel der Kinder mit selektivem Mutismus einen grenzwertigen IQ oder eine intellektuelle Intelligenzminderung haben.

Die Schlussfolgerung ist: Dies könnte erklären, warum diese Kinder Schwierigkeiten haben, in schulischen Umgebungen zu sprechen. 

Diese Ergebnisse sind in meinen Augen größter Unsinn und auch aus wissenschaftlicher Basis nicht haltbar: In den allermeisten Fällen beginnt Selektiver Mutismus im Kindergarten oder bereits vorher und wird erst im Kindergarten entdeckt. 

Zudem ist diese Annahme komplett irre! (Sorry, ich bin ganz kurz von der wissenschaftlichen in die emotionale Ebene gekippt)

Wir wissen, dass der IQ sich nicht auf das Sprechen oder die emotionale Intelligenz bezieht. Im Gegenteil. Die Theorie, dass ein geminderter IQ zu den Sprechproblemen führt, würde ja bedeuten, dass ein Kind erst mit dem Sprechen aufhört, wenn seine Intelligenz gefordert ist. Ergo: Wenn man ihm eine leichte Frage stellen würde, würde es antworten, sobald es schwierig wird, schweigt es. Und sobald dann die erste Matheaufgabe gefragt ist, beginnt es plötzlich zu schweigen. Zudem müsste sich dieses Bild sowohl im häuslichen, als auch im außerfamiliären Umfeld gleich zeigen. 

 


Hat IQ etwas mit Mutismus zu tun?

Nein, denn diese Ergebnisse lassen sich sehr leicht erklären. Hierzu eine weitere Eine weitere Beobachtung der Forscher: Fachlich durchgeführte Tests zeigen oft niedrigere Ergebnisse bei Kindern mit Mutismus, im Vergleich zu Tests, die von Eltern durchgeführt werden. Das ist der Prüfungsangst Klassiker.

Der IQ von Betroffenen des selektiven Mutismus ist selbstverständlicherweise höher, wenn er im gewohnten (nicht mutistischen) Umfeld gemessen wird.  Warum?

Stell dir einfach vor, du müsstest logische Denkaufgaben lösen, während du gerade in einer Angststarre bist (Bsp.: In 50 Metern Höhe an einem Seil). In angststarre (Mutismus-Freezing) ist sogar das Gehirn weniger durchblutet. Unwichtige Funktionen werden ausgeschaltet. Das sollte in der Psychologie zum Grundwissen dazugehören.

Und da kommen wir wieder zu der oben genannten Unlogik: Wie kann es sein, dass ein Kind in der Schule plötzlich dümmer wird, als zuhause? Würde es seine Intelligenz nicht in die Schule mitbringen? 

 

💡 Wusstest du schon?

Der IQ eines Menschen kann sich im Lauf seines Lebens stark verändern. Er verändert sich zum einen durch das familiäre Umfeld und zum Anderen kann er auch aktiv durch spezielle Gehirnübungen verbessert werden. Auch das habe ich damals von meiner Psychologie Prof gelernt. 

Daher ist das gesamte Konzept von IQ mittlerweile sehr umstritten.

Der Einfluss von Voreingenommenheit der Wissenschaftler bei Studien

Du hast es wahrscheinlich bemerkt : Wenn ich solche Studien lese, bin ich als Betroffene sehr aufmerksam. Einer der Gründe dafür, ist der sogenannte Forscherbias.

Forscherbias bedeutet, dass die Erwartungen der Forscher ihre Ergebnisse beeinflussen können. Das passiert, wenn Forscher unbewusst dazu neigen, Ergebnisse zu finden, die ihren eigenen Überzeugungen entsprechen. Aus dem Grund, dass sie eifach gerne eine bestimmtes Ergebnis sehen möchten oder eine Vorannahme haben.

In dieser Studie kann das natürlich nicht ausgeschlossen werden. Um das Risiko des Forscherbias zu minimieren, sollten Studien idealerweise zweimal von unterschiedlichen Wissenschaftlern durchgeführt werden, um die Zuverlässigkeit sicherzustellen.

Um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich daher eine zweite Studie angesehen, welche ähnliche Forschung betrieben hat. 

In dieser weiteren Studie identifizierten Forscher ähnliche Überschneidungen zwischen selektivem Mutismus und Autismus. Das Interessante dabei:  Die Überschneidungen gab es insbesondere bei Kindern. Weniger bei Erwachsenen.

Das allein ergibt überhaupt keinen Sinn. Das würde ja bedeuten, dass Kinder mit autistischen Merkmalen quasi aus dem Autismus herauswachsen. Wir wissen jedoch, dass Autismus nicht im Alter nachlässt.

Es könnte jedoch auch bedeuten, dass Erwachsene lernen, sich anzupassen und zu maskieren. Wären die Forscher aber wirklich so erfahren, dann würden sie auch das erkennen und in ihre Ergebnisse mit einbeziehen. 

Wichtige weitere Erkenntnisse der Studien: Es wurde kein direkter Zusammenhang zwischen der Ausprägung (Stärke) des selektiven Mutismus und der Ausprägung (Stärke) von autistischen Symptomen gezeigt.

Das heißt für mich einfach gesagt: Mutismus und Autismus sind nicht direkt miteinander verknüpft und damit weiterhin als voneinander getrennte Erscheinungen zu betrachten.

Was bedeutet das für die zukünftige Behandlung und Förderung von Kindern mit selektiven Mutismus?

Laut Forschern sollten Kinder mit selektivem Mutismus in schulischen Umgebungen ähnliche Unterstützung erhalten, wie diejenigen mit Autismus.

Das bedeutet: Ein großer Anteil von Kindern mit selektivem Mutismus sollten nicht nur Hilfe bei der verbalen Kommunikation bekommen, sondern auch maßgeschneiderte Interventionen für Kinder mit autistischen Merkmalen. 🧐

Die Wissenschaftler schlagen vor, dass wir Autismus und Mutismus gemeinsam betrachten.

Zudem legen sie nahe, dass Kinder mit selektivem Mutismus sowohl in der Therapie als auch in der Schule dieselbe Behandlung bekommen sollten, wie Kinder mit autistischen Merkmalen. 

Ich hoffe es tut dir beim lesen genauso weh, wie mir.

🏃🏻‍♀️Wir laufen wir erneut Gefahr, alle Kinder unter einen Hut zu packen und zwei unterschiedliche Thematiken in eine gemeinsame Schublade zu packen, weil wir noch keine ausreichende Erklärung dafür finden konnten. Mit dem Ergebnis, dass Kinder mit selektivem Mutismus nicht mehr entsprechend gefördert werden. Mutismus gilt als heilbar. Dieser Vorschlag lässt uns Gefahr laufen, Mutismus unheilbar zu machen. Indem wir die Kinder in einer ihnen auferlegten anderen Störung halten, die sie gar nicht haben. 

Wir sollten statt weniger zu differenzieren, mehr differenzieren!

Sozialphobie, Trennungsangst, ADHS, (Asperger) Autismus, Trauma, Depression, … . Selbst diese Klassifizierungen sind noch viel zu ungenau. Jede dieser Erscheinungen (Störungen) braucht eine eigene Diagnostik und einen Therapieplan, der auf das individuelle Erscheinungsbild des Kindes zugeschnitten ist.

Ebenso sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Kinder mit autistischen Merkmalen ebenfalls unter einer Angststörung leiden, wenn sie selektiv mutistisch sind. Darum brauchen sie ebenfalls Hilfe bei ihrem Weg aus der Angst. 

Ich habe niemals die Meinung vertreten, dass Kinder mit selektivem Mutismus nur bezüglich des lauten Sprechens behandelt werden. Ihre Angststörung macht ihnen das Leben schwer.

Das laute Sprechen zu fördern ist natürlich auch wichtig.  Denn das Sprechen ist für die Entwicklung der eigenen Identität und einem gesunden Selbstbewusstsein unabdingbar. Doch es ist und bleibt das Symptom, welches unabhängig von der Grunderkrankung angegangen werden sollte.

Eine Erkenntnis können wir von der Studie garantiert ableiten: Es ist elementar wichtig, Kenntnisse von Fachpersonen im Bereich des selektiven Mutismus zu erweitern.  Und es braucht eindeutigere Diagnosekriterien, die dabei helfen, selektiven Mutismus von Autismus zu unterscheiden.

Ein unausweichlicher Baustein dafür ist es, die Diagnosekriterien in DSM-5 und ICD 11 zu verfeinern. Nur so können Kinder mit selektivem Mutismus und autistischen Merkmalen von denen unterschieden werden, die nur Mutismus haben. Das ist für die angemessene Behandlung von äußerst großer Bedeutung. 

Mit diesem Wissen können auch Eltern besser für ihre Kinder eintreten und auf eine ausführlichere Diagnostik bestehen.

 

Fazit: Ich stehe noch immer unter Schock von den Empfehlungen, Kindern mit Mutismus und Autismus an Schulen dieselbe Behandlung zukommen zu lassen.